
Im zweiten Teil meiner Buchvorstellung von “Utopia” von Thomas Morus stelle ich meinen Utopie-Check des Romans vor sowie drei Aspekte, die ich beim Lesen des Buches besonders spannend fand. Außerdem bewerte ich das Buch abschließend und teile mein Lieblingszitat sowie weiterführende Literaturangaben.
Falls du den ersten Teil meiner Rezension zum geschichtlichen und inhaltlichen Überblick von „Utopia“ anschauen möchtest, kannst du das in diesem Blogbeitrag tun.
Utopie-Check
In Utopia ist nicht alles Gold was glänzt bzw. nicht jedes Detail auch heute noch eine utopische Vorstellung: Das isolierte Inselsystem und das sozialistische Wirtschaftssystem erscheinen mir ziemlich unflexibel und fragil. Und dass Arbeiten von unterdrückten Personengruppen erbracht werden, ist definitiv keine zeitgemäße Utopie mehr. Auch die Herrschaftsverhältnisse von Männern zu Frauen und Eltern zu Kindern sind nichts, was ich einer aktuellen Utopie zurechnen möchte.
Dennoch gibt es in „Utopia“ einige interessante Gedanken. Diese drei Aspekte fand ich beim Lesen besonders spannend:
Die Organisation von Arbeit
Bei dem Punkt kann ich nicht aus meiner Haut als People & Culture Managerin. 🙂 Die Arbeitsstruktur auf Utopia finde ich interessant und einige Aspekte ziemlich zeitgemäß.
- Für alle Bürger (außer den Sklaven) gilt ein 6-Stunden-Arbeitstag. Heute reden wir über die Vier-Tage-Woche oder den Fünf-Stunden-Arbeitstag. Und auch über lebensphasenorientierte, flexible Arbeitszeitgestaltung – so weit waren die Utopier allerdings noch nicht ganz.
- No Bullshit-Jobs: Auf Utopia werden nur Arbeiten erlernt und ausgeführt, die der Gemeinschaft direkt zuträglich sind, vor allem Handwerk und Landwirtschaft. Da es wenige Gesetze gibt, dürfte auch der Verwaltungsaufwand in Utopia gering sein.
- Gesundheitsberufe genießen ein hohes Ansehen. Generell wird Kranken ein hohes Maß an Fürsorge zuteil, die Versorgungseinrichtungen sind großzügig ausgestattet. Allerspätestens seit Corona ist die Systemrelevanz des hiesigen Gesundheitssystems ein Thema und zu viele Angestellte warten noch immer auf mehr Anerkennung, Flexibilität und schlichtweg Geld für ihre kranken- und altenpflegerische Berufe. Frustrierend.
- Arbeiten um zu leben, nicht leben um zu Arbeiten: In Zeiten, in denen alle Bedürfnisse der Bürger von Utopia (über)erfüllt sind, wird die Arbeitszeit für alle Bürger reduziert. “Denn die Obrigkeiten plagen die Bürger nicht mit unnützer überflüssiger Arbeit.” (S. 52). Ich finde das einen individuell, unternehmerisch und gesamtgesellschaftlich relevanten Gedanken. Wie lange können wir das Aufstiegsversprechen von “Mehr Arbeit führt zu mehr Wohlstand” noch aufrechterhalten? Wann wird aus einem Mehr an Zeit und Anstrengung nicht mehr ein adäquates Mehr an Wohlstand. Und was ist dieser Wohlstand heute überhaupt?
Die Gestaltung der Zeit
- In der Regel arbeiten die Menschen in Utopia drei Stunden am Vormittag und drei Stunden am Nachmittag. “Die Mußezwischenzeit verwenden die meisten für die Wissenschaft.“ (S. 48) D.h. sie geben öffentlich Unterricht, an dem alle Bürger nach Interesse teilnehmen können. Heute nennt man sowas Volkshochschule oder Udemy. Wissen erwerben und teilen hat also einen hohen Stellenwert zum Wohle aller.
- Darüber hinaus gibt es feste Zeiten und Rituale für Gemeinschaft, Spielen, Musik und Gespräche. Heute würde man Community Building oder vielleicht ehrenamtliches Engagement dazu sagen. Diese holistische Perspektive passt z.B. zur 4-in-1-Perspektive der Soziologin Frigga Haug. In diesem Modell werden die 16 produktiven Stunden eines Tages (zuzüglich 8 Stunden Schlaf) auf folgende vier Tätigkeitsbereiche je vier Stunden aufgeteilt: Erwerbsleben, Care (für sich selbst und andere), kulturelle Arbeit und eigene Entwicklung, politisches Engagement.
Religion und Feste
In Utopia gibt es religiöse Zeremonien, die gewährleisten, dass sich alle Glaubensrichtungen unter einem gemeinsamen Nenner wiederfinden können. Das macht den übergeordneten Zweck natürlich ziemlich abstrakt, sorgt aber dafür, dass alle Religionen sich darin wiederfinden können. Dabei gibt es in Utopia feste Feiertage, z.B. zum Ende eines Monats (als Fastentag) und zum Anfang eines Monats (als Fest für den Neustart).
Übertragen ins Heute kommt mit einer zunehmend pluralistischen, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft die Frage auf, welche Feiertage eine Gesellschaft braucht und ob diese religiös begründet sein sollten bzw. können. Klar ist: Gemeinsame, einem Zweck gewidmete Zeit verbindet und schafft Zeiteinheiten, die zusammen verbracht werden können, ohne dass es dafür einer gesonderten Begründung bedarf. Teresa Bücker nennt dies in ihrem Buch “Alle Zeit” die “kollektiven Zeitinstitutionen”, die für gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig sind. (Insgesamt ist das ein großes Thema. Mehr Literaturtipps hierzu gibt’s deswegen am Ende dieses Artikels.)
Lieblingszitat
“Ungewohnte Meinungen sind den Menschen nicht einzupfropfen, solche haben bei vom Gegenteil Überzeugten keinerlei Gewicht; du musst es auf einem Umwege versuchen und, so viel an dir liegt, in der Sache gemach Verfahren, auch, was man nicht zum Guten wenden kann, wenigstens so anfassen, dass es so wenig schlecht als möglich bleibe.”
Der Ich-Erzähler im Gespräch mit Raphael Hythlodäus. Aus “Utopia” von Thomas Morus, S. 35.
Zusammenfassende Einschätzung
Trotz des geringen Umfang des Buches habe ich relativ lange gebraucht, um es zu lesen. Das liegt sicher an der altertümlichen Sprache, besonders in den Passagen in denen der Ich-Erzähler zu Wort kommt (dann kann ein Satz schonmal über eine halbe Seite gehen). Es ist also kein Buch, dass man mal so nebenbei liest.
Inhaltlich habe ich an einigen Stellen meine Freude gehabt. Ich hatte gelesen, dass es abweichende Interpretationen dieses Buchs gibt, habe es aber selbst als deutliche Kritik am britischen Königshaus und dessen Staatsführung verstanden. (Im Beitrag „Was ist eine Utopie?“ hatte ich schonmal was zum Charakter von Utopien als getarnte Gegenwartskritik geschrieben.) Ehrlich gesagt verwundert es mich, dass es für Thomas Morus nicht nach Veröffentlichung dieser Schrift schon schlimmere Konsequenzen gab. Aber er war auch ein sehr angesehener Mann, der sicher ein wenig Narrenfreiheit gehabt hat.
Die Erzählstruktur ist geschickt gemacht, der Ich-Erzähler (vermutlich Morus selbst, aber es ist nicht ausdrücklich klar) hört eine Geschichte von einem Unbekannten über eine unbekannte Insel. Indem er diese Erzählung wiedergibt, kann er sich davon distanzieren und erklärt auch gegen Ende selbst: “Indessen, wenn ich auch nicht allem, was er zum Besten gegeben, beistimmen kann, obwohl er [Raphael Hythlodäus] ohne Widerspruch ein höchst gelehrter, in den Weltangelegenheiten gründlich unterrichteter Mann war, so muss ich doch ohne weiteres gestehen, dass es im utopischen Staatswesen eine Menge Dinge gibt, die ich in anderen Staaten verwirklicht zu sehen wünsche. Freilich wünsche ich das mehr, als ich es hoffe.” (S. 112)
An einer bezeichnenden Stelle lässt er sogar ein Kind in Utopia zu Wort kommen, dass die Prunksucht eines königlichen, mit Schmuck behängten Besuchers verspottet: “‘Schau, Mutter, was für ein großer Schlingel da noch Perlen und Edelsteine trägt, als ob er noch ein kleiner Knirps wäre.’ Aber die Mutter heißt ihn ganz ernsthaft schweigen und sagt: ‘Vielleicht ist das einer der Possenreißer der Gesandten.’” (S. 62)
Bilder zum Buch
Die Insel Utopia
Aus den Angaben im Buch habe ich mit DALL-E einige Entwürfe für die Utopia-Insel generiert, so auch die Bildern in den beiden Beiträgen. Gefreut habe ich mich, als ich im Wikipedia-Artikel zum Buch eine Originalabbildung aus dem ursprünglichen Buch entdeckt habe, die einige Ähnlichkeiten zu „meinem“ Utopia-Bild aufweist.
“Erstelle das Bild einer Insel mit folgenden Merkmalen: Die Insel hat die Form eines zunehmenden Mondes. In der Mitte ist sie am breitesten und wird zu ihren Enden schmaler. Die Insel ist umgeben von Meer. Die Sonne scheint. An der innenliegenden Seite der Insel befindet sich eine Bucht, die wie ein See anmutet. In der Bucht befindet sich ein Hafen, von dem aus Segelschiffe davonfahren. In der Mitte der Bucht ragt ein Felsen empor. Auf diesem Felsen steht ein steinerner Turm. Auf der Insel befinden sich mehrere gleich große und gleich gestaltete Städte. Die Städte sind geräumig und prächtig, mit schönen Gärten. Zwischen den Städten gibt es Felder und Wiesen.”

Die Landschaft und Städte
Auf dieser Ebene haben mich die Buchbeschreibungen bei der Bildgenerierung nicht weitergebracht. Für mich war es schlichtweg nicht möglich, mit DALL-E identische Häuser und Gärten mit weißen Flachdächern zu generieren. Schade. 🤷

Quellen und weiterführende Infos
- Buch “Utopia” bei Wikipedia
- Thomas Morus bei Wikipedia
- Schön gemachter Übersichtsband: Manguel, Alberto: Sehnsucht Utopie. Eine Reise durch fünf Jahrhunderte.
- Für einen Deep Dive: Schölderle, Thomas: Die Geschichte der Utopie. Eine Einführung.
Zum Thema Religion und Feiertage
- Buchbesprechung zu “Religion für Atheisten” von Alain de Botton im Podcast „Zwischen zwei Deckeln”.
- Buch ”Alle Zeit” von Teresa Bücker.
- Folge im WDR 5 Tagesgespräch-Podcast: “Ostern. Brauchen wir noch christliche Feiertage?”
Was denkst du zu Utopia?
Puh, das waren viele Gedanken zu einem ziemlich vielschichtigen Büchlein. Bei Weitem konnte ich nicht alles hier aufführen.
Mich interessiert, wie deine Gedanken dazu sind. Hast du Ergänzungen, Assoziationen oder Kritik im Sinn? Schreib es mir gerne!
Vielleicht hast du das Buch als Schullektüre im Unterricht behandelt und eine ergänzende Interpretation dazu? Ich freue mich, wenn du sie hier teilst.
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Ein Gedanke zu “Buchrezension zu “Utopia” von Thomas Morus. (Teil 2 von 2)”