
Wie können wir Zukünfte lebendig werden lassen?
Darüber habe ich kürzlich mit Jannis Deutschmann gesprochen. Jannis ist Mitgründer der Organisationen “Open State Strategies GmbH” und “Wir bauen Zukunft eG” und engagiert sich für die gemeinwohlorientierte, regenerative Transformation unserer Lebenswelt. Mit Jannis habe ich darüber gesprochen, wie in einem 10 Hektar großen Naturreservat in Mecklenburg-Vorpommern eine regenerative Zukunft greifbar wird. Und darüber, wie eine Gruppe von Menschen ihre individuellen Zukunftsvorstellungen für eine gemeinsame Arbeit nutzbar machen kann. Außerdem berichtet Jannis von seinem Werdegang als Zukunftsbauer und teilt ein Zukunfts-Zitat sowie seine persönliche Utopie mit uns.

Hallo Jannis. Bitte stelle dich für die Leser*innen des Blogs kurz selbst vor.
Ich bin Jannis Deutschmann und bin engagiert bei „Wir bauen Zukunft“, einem Zukunftsort in Mecklenburg-Vorpommern, den wir vor acht Jahren gegründet haben. In unserem Naturareal versuchen wir, eine mögliche, nachhaltige Zukunft erlebbar zu machen. Dabei geht es um vier Aspekte: Bauen, Zusammenleben, Arbeiten und Lernen. Bei uns gibt es Workshops und Seminare, unsere Räume können für Veranstaltungen gemietet werden, außerdem beraten und begleiten wir andere Organisationen und Menschen, die auf einem ähnlichen Weg sind.
Wie bist du Teil dieser Initiative geworden?
Bereits in meiner Jugend habe ich mich politisch engagiert und war sehr viel “gegen” irgendetwas, zum Beispiel Castortransporte oder Naziaufmärsche. Das hat mich irgendwann frustriert. Nach der Schule habe ich eine pädagogische Ausbildung gemacht und studiert. Während des Studiums bin ich Vater geworden und da ist mir aufgegangen, dass ich eine Verantwortung habe, die Welt, an dem meine Tochter aufwachsen wird, lebenswert zu machen. Ich hatte den Drang etwas zu tun. Gleichzeitig hatte ich Menschen kennengelernt, die sich für einen greifbaren Wandel organisierten, das Open State Kollektiv. Dort habe ich angefangen mich zu engagieren und war hin- und hergerissen, ob ich die Uni abbrechen soll. Dann gab es einen Schlüsselmoment in der S-Bahn: Als ich mit meinen Pro- und Kontra-Listen beschäftigt war, stieg ein Typ ein, mit einem Beutel über der Schulter auf dem stand “Hört auf zu studieren, fangt an zu begreifen.” Das hat dann mein Schicksal besiegelt.
Wie ging es dann für dich weiter?
Ab da ging eine rasante Reise los, das war 2014. Mit Open State haben wir ein Camp organisiert, das parallel zur UN-Klimakonferenz 2015 stattfand, das POC21 Klimainnovationscamp. Dort trafen sich 100 Leute, die an greifbaren Lösungen für eine zukunftsfähige Welt arbeiteten. Das waren Open Source Hardwarelösungen, also Produkte, die in ihrem Bauplan offen sind, die keine geplanten Obsoleszenzen haben und frei zum Nachbauen gestaltet sind. Da gab es zum Beispiel eine Kreislaufdusche, eine Windturbine zum Selberbauen oder ein zirkuläres Gewächshaus. Viele spannende Projekte an einem Ort!
Bei der UN-Klimakonferenz in Paris wurde viel geredet, die Macher*innen hatten schon gute Lösungen entwickelt. Schmerzlich war es dann, als wir alles, was wir aufgebaut hatten, wieder abbauen mussten. Das hat viel Energie gekostet und am Ende war bis auf die Erfahrungen, Berichte und Wirbel in der Presse nichts mehr da. Da kam der Wunsch auf, einen Ort zu haben, an dem ähnliche Projekte dauerhaft stattfinden können und aufeinander aufbauen.
Wir haben uns dann mit einer Gruppe von Menschen zusammengetan, die zu der Zeit ein sogenanntes Earthship in Tempelhof gebaut haben, also ein nachhaltiges Niedrigenergiehaus aus Recyclingmaterialien. Wir waren energetisiert von der Erfahrung, gemeinsam etwas zu schaffen und haben dann “Wir bauen Zukunft” gegründet.

Wie habt ihr die Startphase eurer Initiative und mit dem neuen Team gestaltet?
Zu Beginn waren wir circa 25 Personen und wir mussten überlegen, was genau wir eigentlich machen wollen. Was sind die individuellen Vorstellungen von Zukünften und wir kriegen wir da einen Konsens oder wenigstens Konsent hin? Dafür haben wir einen gemeinsamen Visionsprozess gestartet, das Dragon Dreaming. Dabei geht es darum, dass man ins Träumen geht; da sehe ich auch den Bezug zur Utopie. Der erste Schritt in einem Dragon Dreaming ist, dass man einen “Traumkreis” macht. Die Teilnehmenden setzen sich dafür in einen Kreis und beantworten gemeinsam die Fragen “Was muss passieren, damit wir in fünf Jahren sagen: Besser als in diesem Projekt und mit diesen Leuten hätte ich meine Zeit nicht verbringen können? Was wollen wir in die Welt bringen? Wie wollen wir das machen?” So haben wir alle Träume eingesammelt. Ein Prinzip dieser Methode ist, dass alle Träume erstmal in Ordnung sind und erfüllt werden sollen. Die Art und Weise ist also eigentlich komplett unmöglich und gleichzeitig ist es genau das Mindset, mit dem wir daran gegangen sind.
Ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, weil das so stark ist und uns ganz viel Energie als Gruppe gegeben hat. Es gibt den Wunsch, groß zu denken und uns gegenseitig zu bestärken, auch bei vermeintlich verrückten Ideen.
Das Wort Zukunft steckt sogar in eurem Namen. Deswegen meine Frage: Wie sieht die Zukunft aus, die ihr euch wünscht?
Ich glaube, Zukunft ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Es geht immer wieder darum, sich zu aktualisieren und anzupassen. Die DNA, mit der wir gestartet sind, ist immer noch relevant und gleichzeitig haben sich Sachen geändert. Personen haben das Projekt verlassen, andere sind hinzugekommen. Auch wir als Organisation haben uns weiterentwickelt. Aus dem Utopischen ist etwas Realutopisches geworden, teilweise ist es auch ganz pragmatisch. Wir sind eine Firma und bewegen uns in einem Marktumfeld, haben mittlerweile knapp 15 Angestellte. Die Idee von Wirtschaftlichkeit muss ins Zentrum gerückt werden, die Art wie wir wirtschaften soll regenerativ und gemeinwohlorientiert sein.
Du meinst, es gilt, “die Zukunft” immer wieder neu aufzubauen, weiterzudenken und zu gestalten?
Genau. Hinfallen, wieder aufstehen, weitermachen. Es gab in unserem Projekt schon viele Krisen. Aus denen haben wir gelernt und uns neu erfunden. Die vielen Gänsehautmomente und gemeinsame Gruppenerfahrungen haben uns dabei sehr geholfen, denn wir hatten unsere Träume mittlerweile als Gruppe verinnerlicht.
Inzwischen sind wir im Netzwerk Zukunftsorte, einem Zusammenschluss von Orten in Deutschland, die eine ähnliche Vision haben wie wir. Es hilft sehr, im „Machen“ auf dem Weg Verbündete zu finden. Das hat uns sehr bestärkt.
Was sind eure konkreten Ziele und Pläne für die nächsten Monate?
Wenn alles gut geht, wird bald der Bebauungsplan für unser Earthship, die Tiny House Siedlung, ein Gästehaus und einen Wohnraum für bis zu 50 Menschen abgestimmt. Das sind wichtige Schritte für unsere Vision, unseren Zukunftsort baulich umfassend weiterzuentwickeln. Um unsere ambitionierten Pläne zu realisieren, freuen wir uns als Genossenschaft weiter zu wachsen und mehr Genoss*innen an Board zu holen. Nach dem Motto: “Was einer nicht schafft, das schaffen viele” wollen wir unter anderem so unser Eigenkapital für die Bauprojekte sammeln.
Außerdem wollen wir uns als Plattform für nachhaltigen, regenerativen Wandel weiter etablieren, durch Veranstaltungen auf unserem Gelände für große oder kleine Gruppen, Organisationen oder Einzelpersonen. Neben unseren baulichen Projekten auf dem Gelände bieten wir auch weiterhin professionelle Beratung und Begleitung von Gruppenprozessen und Workshops für Menschen und Organisationen an.

Lass uns einmal die Perspektive erweitern und ganzheitlich auf dich als Person schauen: Hast du eine persönliche Utopie?
Da habe ich vor allem eines im Kopf: Frieden.
Für mich geht es zum einen darum, Frieden in mir zu finden, weil ich oft merke, wie sehr ich in Stressmustern oder inneren Spannungen bin. Dann geht es um Frieden in meinen Beziehungen, also in meinem Umfeld, mit meinen Liebsten, Kolleg*innen, Freunden, Nachbarn. So strahlt es dann in die Welt, im besten Fall mit Frieden in der Welt, wo genug für alle da und gerecht verteilt ist.
GIbt es ein Zitat über die Zukunft, das du gerne magst?
“Everybody can learn from the past, today it’s important to learn from the future.” (John Dewey, Philosoph und Pädagoge)
Für mich geht es darum zu überlegen, was mögliche, erstrebenswerte Zukünfte sind und darüber in den Dialog zu kommen. In letzter Zeit nehme ich eine Krise von Imagination wahr. Technologie wird oft mit Zukunft assoziiert, dabei ist sie nur ein Aspekt davon. Ein Beispiel: In der Vergangenheit wurde in Deutschland vor 50 Jahren der VW Golf gebaut. Jedes Jahr wird er ein bisschen schwerer, schneller, vielleicht ein bisschen sparsamer. Aber das ist keine ausreichende Idee von Zukunft, vor allem nicht auf einem endlichen Planeten.
Es geht vielmehr darum, einen gemeinschaftlichen Dialog darüber zu haben, wie wir uns die Zukunft wünschen und dann zu überlegen, wie wir dorthin kommen. Mir ist es wichtig, dass Menschen ihren Träumen folgen und diese nicht als “utopisch” abwerten. Dabei ist eine Utopie erstmal die Vorstellung einer wünschenswerten Welt, die noch nicht existiert. Stattdessen finde ich es schön, wenn wir uns den Begriff Utopie zurückholen, nach dem Motto “Reclaim Utopia”. Ich wünsche mir, dass viele Menschen dabei mitmachen, ihre Träume in die Welt holen und sich gemeinsam verständigen, was eine erstrebenswerte Zukunft, eine Utopie ist. Und dann auch danach zu handeln.
Weiterführende Infos
Wir bauen Zukunft
- Seminar-Zentrum der Zukunft: Vermietung von Räumen für bis zu 800 Personen.
- ComYOUnity-Programm: Leben, Arbeiten und Selbsterfahrung in der Gemeinschaft
- Teil der Genossenschaft werden: Gemeinsam Zukunft bauen und die Vision von Wir bauen Zukunft unterstützen
(Das Headerbild „Prototyping“ stammt von Henry Farkas. Alle übrigen Bilder im Beitrag gehören zu „Wir bauen Zukunft“.)
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2 Gedanken zu “Gemeinsam Zukunft gestalten. Interview mit Jannis Deutschmann von “Wir bauen Zukunft””